Fotografieren mit Haltung
Zwischen Urteil und Offenheit
In der Auseinandersetzung mit Fotos geht es nicht nur um technische Aspekte, sondern auch um die Bereitschaft, die eigene Sichtweise zu hinterfragen und offen für neue Perspektiven zu sein.
Wer sich mit AGORA beschäftigt, kennt die vier Leitfragen:
- Was sehe ich?
- Wie wirken die Bildelemente auf mich?
- Welche Emotionen werden ausgelöst?
- Welche Geschichte lese ich daraus?
Diese Fragen laden dazu ein, genau hinzusehen – und nicht vorschnell zu urteilen. Sie schärfen den Blick, fördern ein tieferes Verständnis von Bildsprache – und eröffnen neue Perspektiven. Für den Fotografen. Für den Betrachter. Für den Dialog.
Doch so hilfreich diese Fragen sind: Sie entfalten ihre Kraft nur, wenn wir bereit sind, unsere Sicht zu hinterfragen. Wenn wir erkennen, dass Wahrnehmung nie neutral ist. Und dass es Mut braucht, nicht nur Bilder, sondern auch das eigene Sehen infrage zu stellen.
Genau darum geht es hier.
Dieser Text ergänzt die AGORA-Bildbetrachtung um einen wichtigen Aspekt: die Haltung, mit der wir auf Bilder – und auf andere Fotografen – blicken. Denn es reicht nicht, ein Foto zu analysieren. Entscheidend ist, wie offen, wie neugierig, wie selbstkritisch wir dabei sind. Und wie sehr wir bereit sind, nicht nur das Bild, sondern uns selbst zu reflektieren.
Wer sich darauf einlässt, entdeckt: Fotografische Entwicklung ist nicht nur eine Frage von Technik, Stil oder Geschmack – sondern vor allem eine Frage der inneren Haltung.
Fotografische Bescheidenheit – oder:
Warum wir beim Sehen nicht aufhören sollten zu lernen
In jeder fotografischen Entwicklung gibt es einen Punkt, an dem man angekommen scheint. Die Bilder sind technisch sauber, wirken stimmig, bekommen gutes Feedback. Man weiß, was funktioniert – für sich selbst, oft auch für andere.
Man wird gesehen. Gehört. Respektiert. Und doch bleibt manchmal ein Gefühl zurück: War’s das? Gehe ich wirklich weiter – oder nur noch im Kreis?
Gerade an dieser Schwelle wird etwas Entscheidendes sichtbar:
- Ob wir uns selbst weiter öffnen – oder absichern.
- Ob wir nach außen urteilen – oder nach innen fragen.
- Ob wir gut bleiben – oder großartig werden.
Fünf Haltungen sind dabei besonders entscheidend. Sie betreffen nicht unsere Technik, sondern unsere Bereitschaft zu sehen – auch, wenn es unbequem ist.
1. Offenheit für andere Perspektiven
Vielleicht kennst Du das:
Du zeigst ein Bild, das Dir viel bedeutet – und jemand sieht etwas völlig anderes darin. Etwas, das Du nicht beabsichtigt hast. Vielleicht sogar etwas, das Dich irritiert. Dein erster Impuls ist Ablehnung: „Das ist nicht gemeint.“
Aber wenn Du kurz innehältst, entdeckst Du: Da ist eine andere Sichtweise, die mein Bild ergänzt.
Offenheit heißt nicht, alles gut zu finden. Es heißt, neugierig zu sein auf das, was Dir selbst nicht eingefallen wäre. Ein ungewöhnlicher Schnitt, ein gewagter Stil, ein unklarer Ausdruck – all das kann Dich zuerst stören. Und dann vielleicht bereichern.
Wer bereit ist, seine eigenen Sehgewohnheiten zu hinterfragen, sieht weiter.
2. Kritik an der eigenen fotografischen Welt
Vielleicht bist Du Teil einer Community oder eines Genres, das eine klare Ästhetik pflegt. Starke Farben. Klare Komposition. Bestimmte Motive, bestimmte Bearbeitungsweisen.
Du weißt, was dort „gut ankommt“. Und vielleicht denkst Du gar nicht mehr darüber nach – weil Du längst Teil des Systems geworden bist.
Aber hast Du Dich schon einmal gefragt:
- Was übersehe ich hier?
- Welche Bilder zeige ich nicht?
- Was wäre, wenn ich andere Kriterien anlegen würde?
In-Group-Kritik heißt, sich selbst und das eigene Umfeld nicht zu schonen – respektvoll, aber ehrlich. Es heißt, den Mainstream infrage zu stellen, dem man selbst angehört. Nicht, um besser zu sein. Sondern, um wacher zu bleiben.
Wo sich alle einig sind, wird der Blick eng. Wo jemand fragt, wird er wieder weit.
3. Verzicht auf Überlegenheitsgefühle
Vielleicht hast Du schon öfter gedacht: Dieses Bild ist technisch schwach – das würde ich anders machen. Oder: Die Idee ist nett, aber gestalterisch unausgereift.
Und vielleicht hast Du Recht. Aber: Was wäre, wenn Du trotzdem neugierig bleibst? Was, wenn Du zuerst fragst: Was funktioniert hier? Was ist spürbar? Und erst danach formulierst, was Du anders machen würdest?
Überlegenheit ist bequem.
Sie schützt Dich vor Unsicherheit – aber auch vor Entwicklung. Denn wer glaubt, „es zu können“, verlernt oft das Lernen.
Ein offener Blick fragt nicht: Bin ich besser? Er fragt: Was kann ich hier noch sehen – das ich bisher übersehen habe?
4. Verzicht auf Arroganz
Vielleicht merkst Du manchmal, dass Du Deine Meinung eher als Urteil formulierst.
- „Das funktioniert nicht.“
- „Die Komposition ist schwach.“
- „Das hätte man besser lösen müssen.“
Aber:
- Wem hilft das?
- Versteht der andere dann wirklich mehr – oder zieht er sich zurück?
Arroganz muss nicht laut sein. Sie kann auch in Ton und Haltung liegen. Großartige Fotografen erklären, was sie sehen – nicht, was sie besser wissen. Sie geben Hinweise – keine Urteile. Sie laden ein – statt zu bewerten.
Wertschätzung ist nicht weich. Sie ist präzise – und respektvoll zugleich.
5. Umgang mit Verletzlichkeit
Vielleicht hast Du schon erlebt, wie ein Kommentar Dich getroffen hat. Nicht, weil er grob war – sondern weil Du mit dem Bild etwas gezeigt hast, das Dir wichtig war. Ein Gefühl. Ein Moment. Eine Erinnerung. Und dann kommt ein Hinweis auf die Tiefenschärfe. Oder das Licht. Oder die fehlende Idee. Es ist menschlich, dass so etwas schmerzt.
Aber die Frage ist: Bleibst Du offen – oder gehst Du innerlich in Deckung?
Hörst Du trotzdem zu? Stellst Du Rückfragen? Oder ziehst Du Dich zurück in den Satz: „Die haben’s halt nicht verstanden.“
Verletzlichkeit gehört zur Fotografie – wie das Licht zum Bild. Und wer sie nicht verteidigt, sondern trägt, wird stärker in seiner Sicht.
Kritik kann ein Angriff sein. Oder ein Angebot. Entscheidend ist: wie Du sie annimmst.
Fotografische Bescheidenheit ist kein Rückschritt – sondern eine Haltung, die Dich weiterbringt.
Sie hilft Dir, wieder neugierig zu werden. Wirklich zuzuhören. Dein eigenes Sehen zu schärfen. Und anderen Raum zu geben, ohne Deinen zu verlieren.
Wer andere Bilder lesen kann, versteht irgendwann auch die Tiefe der eigenen besser.
Und wer seine Perspektive nicht als Zentrum begreift, sondern als Teil eines größeren Ganzen, der wächst – nicht trotz, sondern durch den Dialog.